PROLOG
Lisa legt auf.
Das kann doch wohl nicht wahr sein…es ist noch nicht mal 10 Uhr! Lisa sitzt erst seit einer guten Stunde mit ihrem Laptop am Esstisch und jetzt ruft der Kindergarten an, sie soll Carlo bitte abholen. Er hätte Bauchschmerzen.
Vorhin beim Frühstück ging es ihm doch noch gut? Seltsam. Aber es nützt ja nichts.
Wo war sie stehen geblieben? Ach ja, das Anschreiben für den Vormundschaftsfall. Lisa speichert schnell das Dokument, was sie für ihre Kundin, die Fachanwältin für Familienrecht, Frau Wagner, gerade vorbereitet und läuft zur Haustür. Schnell schlüpft sie in ihre Sneaker, nimmt den Autoschlüssel, die Handtasche und fährt los.
In der KiTa sitzt Carlo schon an der Garderobe, fertig angezogen zum Abmarsch. Als er Lisa sieht, lächelt er sie müde an.
„Mama! Nimmst du mich mit nach Hause?“ fragt er ein bisschen angeschlagen. „Ja, mein Liebling“, antwortet Lisa und drückt ihn an sich.
„Er hält sich seit einer halben Stunde den Bauch und hat sich in die Lego-Ecke verkrümelt, ohne zu spielen“, erklärt die KiTa Leiterin, als sie um die Ecke kommt und Lisa sieht. „Hallo Frau Hermann“, schiebt sie hinterher.
„Hallo Frau Erhardt. Ja, kein Problem, danke sehr. Es ist sicher besser, wenn ich ihn nach Hause bringe. Das wird schon wieder, stimmt’s Carlo?“
Auf dem kurzen Rückweg schläft Carlo sofort auf dem Kindersitz ein. Lisa schaut besorgt in den Rückspiegel. Wenn sie gleich zuhause sind, wird sie vorsorglich mal Fieber messen. Hoffentlich hat er nichts Ernstes. Der Arme, wie er da sitzt und schläft…
Ein lauter Knall lässt Lisa wieder auf die Straße vor sich blicken. Der Aufprall erschüttert den Wagen und bringt ihn zu einem plötzlichen Halt. Lisa hört dabei, wie sich Blech in Blech bohrt, ein schreckliches Geräusch, das ihr durch Mark und Bein fährt. Ein spitzer Schrei entfährt ihr. Es dauert einige Sekunden, bis sie versteht, was passiert ist. Dann wird Carlo wach und weint laut.
Der Vordermann hat vor der Ampel eine Vollbremsung hingelegt, als die Ampel auf Rot umspringt. Lisa hat nur einen Moment nicht geschaut und ist drauf gefahren. Verdammt! Auch das noch!
„Haben Sie Tomaten auf den Augen?“ Ein Mann mittleren Alters klopft an ihrem Fenster und brüllt sie von draußen an. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, seine Stirn in große Falten gelegt und sein Mund wütend verzerrt.
Lisa steigt langsam aus ihrem Auto. Sie ist noch völlig verwirrt und stammelt „Es tut mir leid, ich habe nur einen Augenblick…“.
„Gepennt haben Sie! Geht’s noch? Sowas wie Sie dürfte man gar nicht erst hinters Steuer lassen!“ Er zieht sein Handy aus der Tasche und wählt. Während er auf Antwort wartet dreht er sich wieder zu Lisa um und sagt: „Mann! Was Sie mir jetzt eingebrockt haben. Ich habe einen wichtigen Termin!“
Lisa entscheidet sich, dieses Gewitter an Vorwürfen fürs erste einmal an sich abprallen zu lassen und stuft den Mann innerlich als Choleriker ein. Sie muss sich jetzt erstmal um Carlo kümmern und öffnet die hintere Tür.
„Alles gut, mein Schatz, es ist nichts passiert.“ Sie nimmt ihn aus dem Auto auf den Arm und tröstet ihn.
„Von wegen nichts passiert! Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!“ Er redet sich richtig in Rage. Total unreif, findet Lisa.
„So. Jetzt beruhigen wir uns mal alle hier und machen erst einmal die Kreuzung frei“, regelt ein Polizist endlich die Lage. Lisa atmet innerlich auf. Innerhalb einer halben Stunde ist alles geregelt und die Polizei entlässt Lisa und den kranken Carlo nach Hause.
Was für ein Scheißtag, denkt Lisa, als sie aufschließt und Carlo ins Wohnzimmer trägt.
„Möchtest du hier bei mir liegen und ein Märchen anhören?“, fragt sie ihn. Er nickt und haut sich aufs Sofa. Lisa deckt ihn zu und macht ihm leise eine Geschichte an. Dann misst sie seine Temperatur – alles in Ordnung. Wenigstens auf Carlo ist Verlass, sagt sie sich.
Erneut vibriert ihr Handy und reißt sie aus den Gedanken.
Es ist ihre Kundin, die Fachanwältin Elisabeth Wagner, die mit ihr weitere Aufgaben für die nächste Woche besprechen will. Als Lisa ihr von dem morgendlichen Zwischenfall erzählt, hört Frau Wagner in Ruhe zu und fragt, ob sie für Lisas Unfall einen ihrer Kollegen bemühen soll.
„Oh, nein danke, wie lieb von Ihnen. Aber der Fall ist ganz klar und ich hab auch vor der Polizei schon alles zugegeben. Übrigens schicke ich Ihnen auch noch gleich die Dokumente im Vormundschaftsfall Fuhrmann, das erledige ich heute noch und mach alles fertig.“
„Bitte machen Sie alles in Ruhe, Lisa. Sie sind sicher noch ganz aufgewühlt. Wenn sie alles bis morgen früh schaffen, reicht das völlig aus. Aber eigentlich wollte ich noch kurz eine andere Sache mit Ihnen besprechen: Einer meiner neuen Mandanten hat lange im Internet zum Thema Auslandsadoption recherchiert und unsere Kanzlei nur durch einen Zufall gefunden. Scheinbar ist unsere Webseite über Google sehr schlecht auffindbar. Meinen damaligen Webdesigner gibt es inzwischen ja nicht mehr, wie Sie ja wissen. Haben Sie da einen Vorschlage, wie man das mit wenig Aufwand und Kosten verbessern könnte?“
Seit knapp einem Jahr arbeitet Lisa nun als virtuelle Assistentin für Frau Wagner. Nach Lisas Elternzeit vor zwei Jahren wollte sie nicht mehr zurück ins Angestelltenverhältnis. Die Aufgaben im Notariat Müller, wo sie seit ihrer Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten immer gearbeitet hatte, war für sie schon lange kein Traumjob mehr.
Als ihr Sohn Carlo groß genug für den Kindergarten war, entschied sie sich, als virtuelle Assistentin in Teilzeit den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen. Frau Wagner hier aus Lüneburg wurde ihre erste Kundin. Außer dieser Kanzlei betreut Lisa noch zwei weitere Kunden, für die sie regelmäßig administrative Tätigkeiten übernimmt. Einen Makler und eine Versicherungskauffrau. Sie macht damit keinen Reibach, aber sie schlägt sich durch. Daneben hat sie auch kleine Projekte für verschiedene Kunden ergattert. Meist ging es da ums „Aufräumen“ der jeweiligen Webseiten. Doch Frau Wagner war von Anfang an ihre Lieblingskundin, zu ihr hatte sie sofort einen guten Draht. Die beiden Frauen haben in den letzten Monaten ein fast freundschaftliches Verhältnis zueinander entwickelt. Die Mittfünfzigerin macht immer klare Ansagen, aber in einer ruhigen und sachlichen Weise. Das schätzt Lisa so an ihr.
„Naja, Frau Wagner, Sie kennen ja meine Einstellung. Ihre Webseite müsste endlich einmal komplett neu überarbeitet werden.“
Das hat Lisa bereits vorher für andere Kunden getan. Sie hat sich in dem Webseitenprogramm WordPress immer auf dem Laufenden gehalten und sogar mehrere Kurse absolviert – leider immer auf eigene Rechnung. Frau Wagner ist in dieser Hinsicht nach wie vor skeptisch.
„Ach Lisa, ich weiß nicht…die Seite ist doch erst vier Jahre alt.“
„Sie ist aber nicht optimiert für Suchmaschinen und mobile Endgeräte. Da müssen wir unbedingt ran, Frau Wagner. Es kostet Sie Mandanten, das sehen Sie doch.“
„Können Sie nicht einfach ein paar Google Anzeigen schalten?“, will Frau Wagner wissen.
„Ich schau ich mir mal die Suchbegriffe für ihrer Webseite an und recherchiere, wie wir die Texte und Bilder der Webseite schon mal diesbezüglich optimieren können. Und dann möchte ich noch weitere Blogartikel für ihre Seite schreiben.“
„Ach Lisa, liest irgendwer wirklich einen Anwalts-Blog? Naja. Wie Sie meinen. Aber wir zahlen Ihnen dafür nicht den vollen Stundenpreis, das wissen Sie?“
Lisa stöhnt innerlich auf. So sehr sie Frau Wagner mag, aber in der Beziehung ist sie wirklich eine olle Pfennigfuchserin!
„In Ordnung, Frau Wagner.“
„Prima. Dann bis später und Ihrem Sohnemann gute Besserung.“
Lisa schaut rüber zum Sofa. Carlo ist erneut eingeschlafen. Im Arm hält er seinen Plüschfrosch. Er hat ihn Amaryllis getauft und sagt immer, es sei die gute Fee aus dem „Räuber Hotzenplotz“, als sie noch eine Kröte war. Dass Kröten nicht wie Frösche aussehen, ist ihm egal.
Lisa setzt sich leise zu Carlo und schaut ihn lange beim Schlafen an. Ihr Puls normalisiert sich allmählich. Manchmal fühlt sie sich schon überfordert. Der Spagat zwischen Arbeit, Haus und der Rolle als Mutter gelingt ihr nicht immer. Auch wenn sie es nicht gerne zugibt. Sie hält die Hand an seine Stirn. Nein, Fieber wird er wohl nicht bekommen. Er wacht auf und blinzelt seine Mama an.
„Magst du vielleicht jetzt eine Kleinigkeit essen, mein Schatz?“, fragt sie, als sie ihm über die Wange streicht.
„Ja Mama. Darf ich ein Eis?“ Carlo grinst sie schelmisch an.
„Das hättest du wohl gerne. Ich mach dir die Hühnerbrühe warm. Und wenn du etwas Süßes magst, bekommst du noch Zwieback dazu. Wir müssen erst einmal abwarten, warum du Bauchschmerzen hast und vorsichtig sein.“
Lisa geht in die Küche. Während sie die Suppe umrührt, denkt sie wieder an das Telefonat mit Frau Wagner eben. Sie will einfach nicht für ihre gute Arbeit zahlen. Lisa hat so viele Ideen, wie man das Problem angehen kann, aber Frau Wagner sieht es einfach nicht.Was hat Frau Wagner gegen die Blogartikel? Sie gibt zu, ein bisschen Eigennutz ist schon auch dabei. Diese strategische Arbeit ist einfach ein toller Kontrast zu den langweiligen Geschäftsbriefen, die sie täglich schreiben muss. Und wenn sie an Webseiten arbeitet, vergisst Lisa Zeit und Raum. Auch ihre beiden anderen Kunden zeigen bisher wenig Interesse an diesem Thema. So wie Frau Wagner.
Lisa ärgert sich über sich selbst. Gerade eben war wieder so ein Moment gekommen, wo sie ihre Idee hätte einfach mehr verfechten müssen! Wieso nutzt Frau Wagner nicht Lisas Potenzial? Sie will es noch nicht einmal versuchen!
Ein bitzelndes Geräusch holt sie zurück in die Küche: Die Brühe ergießt sich über den Topf und brennt stinkend am Herd an. Der Qualm steigt ihr heiß ins Gesicht.
„Verdammt noch mal!“, zischt Lisa und fühlt nun den Kloß in ihrem Hals immer mehr anschwellen. Sie nimmt den Topf von der Platte, lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen und vergräbt das Gesicht in ihre Hände. In ihr bricht nun endgültig der Damm. Sie taucht in sich ein und lässt endlich einige laute Schluchzer zu. Nur eine Minute. Es muss einfach raus. Sonst platzt etwas in ihr.
Zum Glück ist die Küchentür zu. Heute geht aber auch wirklich alles in die Hose! Tief durchatmen. Und nochmal. Nun ist es wieder gut. Lisa wischt ihre Tränen weg und füllt die Suppe in einen Teller. Carlo soll nichts merken.
Lisa kriegt das hin. Sie hat schon immer alles hingekriegt. Irgendwie.